Mit Charlotte habe ich im Soho House geplaudert. Sie saß vor mir auf dem Boden, tunkte ihren Teebeutel immer wieder in den Tee, während ich im grünen Samtsofa versank. Es war sehr entspannt mit ihr, obwohl wir auch über belastende Themen gesprochen haben. Amusement, vor allem beim Thema Amour …
Ute Cohen: L. O. V. E. Welchen Begriff verbinden Sie mit den einzelnen Buchstaben?
Charlotte Gainsbourg: Oh, das ist schwer. L – Loyalität, würde ich sagen, oder … Sie zögert. … bin nicht ganz sicher. O – odeur (Geruch). Wir lachen beide. V – vénérer (verehren). E – Energie.
(…)
Ute Cohen: Schlagzeilen machte auch Ihr erstes Lied, das Sie als 13-Jährige mit Ihrem Vater aufnahmen: „Lemon Incest“. Es ist ein Spiel mit dem Thema Inzest, 1985 verursachte es einen Skandal. Finden Sie, dass Ihr Vater zu weit ging?
Charlotte Gainsbourg: Nein, überhaupt nicht. Ich konnte das singen, da es wirklich nichts Irritierendes zwischen uns gab. Wenn irgendetwas vorgefallen wäre, wenn mich etwas verstört hätte, wenn etwas zweideutig gewesen wäre, dann hätte ich schockiert sein können. Dem war aber nicht so. Ob ich das gut fand, weiß ich nicht, aber ich wusste nicht einmal, worin die Provokation bestand. Ich fühlte mich total beschützt. Als der Song herauskam, war ich in der Schweiz im Internat. Vom Skandal selbst habe ich erst später etwas mitbekommen, als ich Das freche Mädchen drehte.
Ute Cohen: Glauben Sie, dass Derartiges heute noch möglich wäre?
Charlotte Gainsbourg: Ich hoffe es! Es ist unheimlich wichtig, dass es keine Zensur in der Kunst gibt. Ich finde es schrecklich, wenn Künstler Angst haben müssen. Es verläuft freilich nur ein schmaler Grat zwischen Kunst und dem, was jenseits der Kunst liegt. Heute schert man alles über einen Kamm und keiner traut sich mehr, etwas zu sagen. Ich denke da an Dieudonné, der sehr tendenziöse und schockierende Sachen sagt. Was er macht, ist keine Kunst, das ist Politik. Pierre Molinier hingegen, man könnte sagen, das sind pornografische Fotos, aber nein, das ist Kunst. Ich finde es wirklich nützlich, die Grenzen zu verschieben und die Leute zu schockieren.“
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Mit Carla habe ich mich wirklich köstlich amüsiert. Sie besitzt eine lässige Eleganz, die sich auch in der Konversation zeigt. Coquine ist sie, kokett, charmant, inspiriert und inspirierend. Wir haben auf zwei Ebenen gespielt (die Kunst der Andeutung!) und viel gelacht. Roarrr!
Ute Cohen: Haben Sie sich schon einmal selbst zensiert, aus Rücksicht auf Ihren Mann oder aus politischen Gründen?
Carla Bruni: Nein, das habe ich niemals, es wäre mir nie in den Sinn gekommen, mich zurückzunehmen oder selbst zu zensieren. Es gab natürlich immer wieder Gerede, weil ich meine Texte so schrieb, wie ich sie empfand – auch über meinen Mann. Der Gedanke an Zensur aber ist völlig abwegig für mich, denn Kunst hat einen besonderen Stellenwert. Sobald sie zensiert wird, ist sie nicht mehr von Belang. Es sind doch alle nur denkbarenThemen bereits behandelt worden. Einzig interessant ist doch, auf welche Weise sie künstlerisch ausgedrückt werden.
Aber es stimmt schon, dass wir in einer Zeit leben, in der der man sich kaum mehr unbefangen ausdrücken kann. In den Sozialen Medien muss man ja auch permanentachtgeben. Jedem Wort werden Fesseln angelegt. Es ist eine düstere Epoche unserer Zivilisation.
Ute Cohen: Wie interpretieren Sie diese Übervorsicht, diese Angst, sich falsch auszudrücken?
Das ist ein Zeichen der Dekadenz.
Ute Cohen: Dekadenz in welchem Sinne?
Carla Bruni: Dekadenz im Sinne von Zensur, Obskurität, vonKonformismus und Mainstream-Denken. All das ist in meinen Augen äußerst dekadent. Die Renaissance war das Gegenteil davon, sie symbolisiert die Freiheit.
Ute Cohen: Sie singen ein Loblied auf die Ekstase „Rien quel’extase“ …
Carla Bruni: Oui! Ekstase ist nicht irgendein Gefühl, Ekstase ist quasi mystisch. In der körperlichen Liebe, wenn man verliebt ist, dann ist man ekstatisch, ja. In der Begierde ist Ekstase verborgen. So kann man den Tod bekämpfen. Ekstase ist ein Schutz gegen den Tod.
In diesem Lied nun, das Sie ansprechen, geht es um einen ekstatischen Zustand, nicht im religiösen Sinne freilich, der von äußerster Seltenheit ist. Ich schreibe darüber, wie es ist, wenn man den Schatten des Todes im Nacken spürt, um die Angst, die uns zerreißt, wenn uns der Tod anlächelt. Es handelt von der Mischung aus Verlangen und Schrecken.
Ute Cohen: Ist es schwierig, über Sex und körperliche Liebe zu singen oder zu schreiben?
Carla Bruni: Das kann ich nicht beurteilen, denn ich schreibe nicht direkt über Sex und physische Liebe. Ich weiß nicht, wie die Leute das machen. In Frankreich gab es am Anfang des 20. Jahrhunderts die sogenannten „Chansons paillardes“. Das war extraordinaire! Das Lied „La nuitd’une demoiselle“ ist wirklich extraordinaire, sehr erotisch! Ich aber schreibe keine expliziten Chansons, non, non (lacht). Worüber ich schreibe, das ist Verlangen, Begierde, Begehren, Sehnsucht – Poesie. Es ist ein diffuses Verlangen, eine Art, am Leben zu sein, sein Herz schlagen zu hören. Es interessiert mich nicht, über Sex zu schreiben oder zu singen. Andere mögen das tun, mich reizt das „désir“, das Verlangen, weit mehr. All meine Texte drehen sich um diese Sinnlichkeit. Meine Lieder sind zwar intim, aber sie handeln nicht von meiner eigenen Intimität. Ich singe nicht über mein Intimleben, ich singe über Menschliches, über uns alle. Über Sie zum Beispiel, eines Tages. (lacht)
(…)
Ute Cohen: Eines Ihrer Lieder handelt von einem Geparden. Das sind Raubtiere, die sich durch ein hochspezialisiertes Jagdverhalten auszeichnen. Sie brauchen die Savanne, das freie Land. Können Sie sich damit identifizieren?
Carla Bruni: Oh ja, das kann ich. Wilde Tiere mag ich sehr. Ich habe „Le Guépard“ während des Lockdowns geschrieben, es ist ein Lied über die Freiheit: eine kleine Fabel von einerFrau, die einen im Käfig eingesperrten Geparden sieht,dessen zitternde Wut, dessen Freiheitssehnsucht sie fasziniert. Sie wünscht sich, dieses Tier mit sich zu nehmen, es zu besänftigen und zugleich seine wilde Schönheit genießen zu können. Was naturgemäß unmöglich ist, denn Raubtiere kann man nicht zähmen, das Unbezwingbare liegt in ihren Genen. Auch ich bin nicht zu bändigen!
Ute Cohen: Ich höre aber Hundejaulen im Hintergrund. Hunde gelten ja im Gegensatz zu Katzen als eher unterwürfig …
Carla Bruni: (lacht) Ja, ich habe einen Hund, aber auch Katzen mag ich sehr. J’adore! J’adore! Am liebsten würde ich ein Raubtier adoptieren. Mein Mann wäre damit aber nicht einverstanden. Er ist ja selbst ein wildes Tier! (lacht)“
(…)
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Mit Jean-Louis Trintignant habe ich vor zwei Jahren ein ganz zauberhaftes, sehr bewegendes Gespräch geführt. Über Camus, Verführung … Quel séducteur!
Dem Tod fühlte er sich bereits nah. Am 17.6.22 hauchte Jean-Louis Xavier Trintignant sein Leben aus.
Ute Cohen: „Zu perfekt, das macht Angst“, heißt es in Ihrem jüngsten Film „Die schönsten Jahre des Lebens“. Flößt Perfektion tatsächlich Angst ein?
Jean-Louis Trintignant: Nein, Claude Lelouch hat diesen Satz geschrieben. Ich finde Perfektion sehr gut. Kürzlich habe ich ein Interview mit Albert Camus gehört. Man warf ihm vor, ein großer Verführer zu sein. Camus antwortete: Aber nein, ich habe all diese Frauen wahrhaftig geliebt. Man kann viele Frauen lieben und dennoch eine perfekte Liebe verspüren. Camus war bewundernswert, man kann ihm menschlich nichts vorwerfen. Ich bedaure, dass er so früh verstorben ist. Er hatte noch so viel vor sich, hatte noch so viele Frauen zu lieben. Er war kein bösartiger Verführer, sondern ging sehr achtsam mit den Frauen um. Camus war ein perfekter Mann.
(…)
Trintignant: Non, non. Ich bin ein bisschen wie Albert Camus. Obwohl solche Vergleiche natürlich überheblich sind. Wissen Sie, kürzlich sagte mir ein Journalist: Sie gehen gern früh schlafen. Ich antwortete: Aber nein, Sie verwechseln mich mit Marcel Proust. Im Scherz natürlich, denn es wäre doch ziemlich anmaßend, sich mit Proust zu vergleichen.
Ute Cohen: Je ferner die Erinnerung, desto näher der Tod. Fürchten Sie ihn?
Trintignant: Aber ja, jeder hat Angst vor dem Tod. Nun, das liegt wohl an meiner Erziehung. Meine Mutter war sehr katholisch, mein Vater überhaupt nicht. Ich bin nicht mehr weit vom Tod entfernt. Ja, der Tod macht mir Angst.
Ute Cohen: Schwindet die Angst vor dem Tod nicht eher, je weiter man im Leben fortschreitet?
Trintignant: Nein, nein. Meine Zukunft ist sehr beschränkt. Ich weiß, dass ich bald sterben werde. Ich habe Angst vor dem Tod. Es ist aber einfacher zu sterben, als schlecht zu leben. Man kann sich aus dem zwanzigsten Stock stürzen, tagtäglich zu leben aber ist schwieriger (…)“
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Was denkt man wohl, wenn man zwischen Mick Jagger und Alain Delon sitzt? Diese Frage durfte ich nicht unbeantwortet lassen. Deshalb habe ich die zerbrechlichste Titanium Woman der Welt befragt. Marianne Faithfull kam schließlich in diesen Genuss … Auch über den Schmerz haben wir gesprochen.
An Marianne denke ich sehr gern. Sie hat mich auf die Probe gestellt in diesem Gespräch. Als sie spürte, dass ich ihr wirklich zugewandt war und genauso unerbittlich sein kann wie sie selbst, war das Eis gebrochen. Sie hat eben ein gutes Gespür für Menschen und Schicksale … Das Kompliment, das sie mir gemacht hat, verschweige ich euch aber (blushing) …
Ute Cohen: Was Männer betrifft, muss ich immer an das Bild denken, auf dem Sie zwischen Alain Delon und diesem anderen jungen Mann sitzen – wie (amüsiert)heißt er noch gleich?
Marianne Faithfull (belustigt)
Ute Cohen: Sie konnten wählen. Das sieht man ja auch auf diesem Foto mit Jagger und Delon …
Marianne Faithfull: Nein, ich hatte nicht wirklich die Wahl, und ich traf auch keine Wahl.
Ute Cohen: War der Ball nicht in Ihrem Feld?
Marianne Faithfull: Ich habe das zumindest nicht erkannt. Ich war gerade mal 18 oder 19 Jahre alt. Ich habe es aber genossen, von den beiden umringt zu sein. Yeah, das war amüsant!
Ute Cohen: Glauben Sie, dass ein Frauenleben verschiedene Phasen durchläuft? In den 70er-Jahren ging es ja in Ihren Liedern viel um Sex und Gewalt; heute eher um eine harmonischere Form von Liebe.
Marianne Faithfull: Ja, das hat aber eher mit den Phasen der Welt zu tun. Die Welt hat sich nach rechts gedreht, ist faschistisch geworden. Wirmüssen sie in abstraktere Begriffe fassen, das kann heute nicht mehr so aufrichtig funktionieren wie in den Siebzigerjahren. Was aber stimmt, ist, dass sich im Laufe des Lebens unser Verständnis von Liebe verändert. Wäre dem nicht so, würden wir vollkommen verrückt werden, und das wollen wir ja nicht.
Ute Cohen: Es gab eine Zeit, in der William Burroughs’ Beat-Generation und Drogenroman „Naked Lunch“ Ihr Ratgeberbuch war.
Marianne Faithfull: (lacht) Ja, ein Ratgeber für alle verrückten Dinge, die man nur tun konnte. Ich brauchte einen Ausweg, und ich entschied in meiner Verrücktheit, dass mein Leitfaden ausgerechnet „Naked Lunch“ sein sollte. Meine Devise lautete: „Okay, ich geh auf die Straße und lebe wie ein Junkie.“ Und ich habe es getan. Jahre später war ich eng befreundet mit William, und ich erzählte ihm die Geschichte, wie sehr sein Buch als Leitfaden für mich funktioniert hat.
Ute Cohen: Was sagte er dazu?
Marianne Faithfull: Er wurde wütend! Rief: „Das war doch nicht für dich gemeint!Das war Fiktion, ein Roman.“
Ute Cohen: Übertrifft die Wirklichkeit die Fiktion?
Marianne Faithfull: Nun, manchmal verstehen wir Dinge einfach falsch.
Ute Cohen: Würden Sie sagen „Non, je ne regrette rien“, oder hätten Sie irgendwann in Ihrem Leben gern eine andere Entscheidung getroffen, als Sie es taten?
Marianne Faithfull: Ich pflegte immer zu denken, ich sei in das falsche Leben gefallen. Vielleicht wäre ich glücklicher gewesen, wenn ich zur Uni gegangen wäre oder zur Schauspielschule. Aber wie schon gesagt, ich war zu jung, um eine Wahl zu treffen. Unglücklicherweise oder auch glücklicherweise, ich weiß es nicht, denn vielleicht war es auch mein Schicksal? Ich wurde entdeckt und in diese Art Rock’n’Roll-Welt geworfen, deren Teil ich in gewisser Weise immer noch bin. Manchmal nicht wirklich glücklich; aber jetzt, in dieser Phase, in der es gut läuft und die Menschen wirklich begreifen, was ich zu sagen versuche … (überlegt) Wissen Sie, ich kann nicht immer einverstanden sein mit den Dingen, die Sie sagen, aber ich schätze es sehr, dass Sie versuchen, zu verstehen, was ich sage. Lieber wäre es mir aber, wenn Sie diese Dinge sagen würden statt meiner. Vielleicht bin ich heute nicht so eloquent, mir geht es einfach nicht gut.
Ute Cohen: Sollen wir lieber…
Marianne Faithfull: Nein, nein, Sie haben doch noch eine Frage! (lacht)
(…)

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Kenne ich all seine Filme? Mais oui! Ich bin ein Ozon-Fan erster Stunde. Mit François Ozon habe ich über ein Thema gesprochen, das ich auch in meinem Roman Satans Spielfeld literarisch bearbeitet habe: Missbrauch. Was ist das Teuflische im Menschen? Wie prägt Gewalt das Leben?
Ute Cohen: Ist sexuelle Gewalt bildlich nicht darstellbar?
François Ozon: Ich wollte das jedenfalls nicht filmen. Ich halte es für gefährlich, da das Kino ein erotisierendes Potenzial besitzt. In der Literatur zum Beispiel ist das anders. Das Wort besitzt diese erotisierende Macht nicht. Mir ging es darum, zu zeigen, warum diese Kinder geschwiegen haben, all das mit sich geschehen ließen. Es ist so, dass Kinder in einer Opferposition sind und gar nicht wissen, wie ihnen geschieht. Der Körper ist wie gelähmt. Diese Erstarrung während der Tat wollte ich erklären.
Ute Cohen: In Deutschland gibt es eine Diskussion um den Begriff „Opfer“, den manche durch „Überlebende“ oder auch „Erlebende“ ersetzen möchten. Was halten Sie davon?
François Ozon: Puh! Diese Art von Debatte interessiert mich nicht. Wenn man von Überlebenden spricht, dann spricht man von Auschwitz-Überlebenden, die dem Tod ins Auge blickten. Vergewaltigung ist meist nicht im wörtlichen Sinne existenzvernichtend. Überlebende anderseits haben das Erlebte überwunden, Vergewaltigungsopfern hingegen gelingt das nie. Opfer kommen mal mehr oder weniger damit klar, sie bringen sich aber auch um, landen in der Psychiatrie. Überlebende hingegen bewältigen ihre Traumata.
(…)
Ute Cohen: „Gelobt sei Gott“ und einer ihrer vorigen Filme „Jung & Schön“ sind zwei grundverschiedene Coming-of-Age-Filme. Aus französischen Filmen kennt man meist nur Storys, in denen der Vater die beste Freundin ganz „einvernehmlich“ verführt …
François Ozon: (lacht und nickt) Was mich in „Jung & Schön“ interessierte, war die Furchtlosigkeit der Jugend. Jugendliche kennen keine Gefahr. Jugendliche glauben sich unsterblich und brauchen dieses Gefühl, ihr Leben zu riskieren. Ich wurde von Feministinnen attackiert, weil der Film keine Moral hat, weil er dem Zuschauer Freiheit zugesteht. Der Zuschauer aber hat Angst, frei zu sein. Mich faszinierte das irrationale Handeln der Hauptfigur. Das Mädchen prostituiert sich nicht für Geld, sondern aus einer unerklärlichen Faszination für Gefahr heraus. Vergleichbar ist das mit „Belle de Jour“ von Buñuel. Auf den ersten Blick haben „Jung &Schön“ und „Gelobt sei Gott“ nichts miteinander zu tun, aber wenn man genauer hinschaut, erkennt man die Gemeinsamkeit. Das Mädchen in „Jung & Schön“ ist für mich typisch für Menschen, denen sexuelle Gewalt in der Kindheit widerfuhr. 80% der Prostituierten wurden, wie mir Psychiater bestätigten, in ihrer Kindheit missbraucht. Die Aufspaltung von Körper und Geist, die Lust, den gefühllos gewordenen Körper extremen Erfahrungen auszusetzen, ist charakteristisch für Missbrauchsopfer.
Ute Cohen; Das ist eine gewagte Aussage in einer Zeit, in der Sexualität vor allem schwarz-weiß gezeichnet wird.
François Ozon: Sexualität ist nicht schwarz-weiß. Sexualität ist sehr komplex. Dieser puritanische amerikanische Diskurs ist mir zu extrem. Ein schriftlicher Vertrag vor Flirtbeginn? Nein.
Ute Cohen: Jungen wagen es oftmals nicht, über Missbrauch zu reden. Liegt das an einer falsch verstandenen Männlichkeit in unserer Gesellschaft?
Frsnçois Ozon: Natürlich. Ein Junge, der über sexuelle Gewalt spricht, setzt sich dem Vorwurf aus, nicht männlich gehandelt zu haben. Ich habe viele ältere Männer getroffen, die ihr Schuldgefühl erst sehr spät überwunden und über die Taten gesprochen haben.
Ute Cohen: Ihre Figuren lassen Sie in Ihren Filmen, „Eine neue Freundin“ zum Beispiel, immer wieder Formen von Sexualität ausprobieren. Wird Sex zu gleichförmig dargestellt?
François Ozon: Och, die Frage stelle ich mir nicht. Ich finde, dass es Gleichheit zwischen Mann und Frau geben muss und das bedeutet für mich in erster Linie gleiche Bezahlung, Karrierechancen und so fort. Was die Dinge kompliziert macht, ist, dass Frauen wissen, was sie wollen, Männer hingegen nicht. Männer wissen nicht, wie ihnen geschieht. Nach Jahrhunderten des Patriarchats merken sie plötzlich, oh, wir müssen den Frauen ein bisschen Platz lassen. Da fühlen sich viele Männer verloren. Deshalb kippen sie in diese Extreme, werden totale Machos, homophob. Rechte wie Bolsanaro fühlen sich bedroht von der Weiblichkeit, deshalb zeigen sie sich um so viriler. Als wäre Weiblichkeit die Pest! Nun, in Deutschland sind ja viele Frauen an der Macht!
Ute Cohen: Was halten Sie denn von Bezeichnungen wie queer oder sapiosexuell? Stellt diese Ausuferung der Begriffe nicht eher eine Einschränkung dar?
François Ozon: Dieser Trend kommt auch aus Amerika. Dieser Wille nach Identität, eindeutigen Klassifizierungen, Menschen über ihre Sexualität definieren zu wollen, puh! Wenn man frei ist, dann kann man heute hetero und morgen homosexuell sein. In Frankreich stehen wir diesem Kommunitarismus sehr misstrauisch gegenüber. Wir müssen nicht alles in Schubladen stecken.“
(…)
Ute Cohen: Warum steht der Körper immer im Zentrum aktueller Debatten? Prostitution, Brustwarzen auf Facebook … Warum versucht die Gesellschaft den Körper immer mehr zu kontrollieren?
François Ozon: Tja, das weiß ich auch nicht. Das liegt wohl generell am Thema Sexualität. Sexualität ist das Unbewusste und darin verbirgt sich eben auch Gewalt. Das muss man sich eingestehen. Sexualität ist nicht nur Verliebtsein und Romantik. Die Kirche verurteilt Sex ohne Fortpflanzung, will einfach nicht anerkennen, dass Sex auch Vergnügen ist, auch sadomasochistisches Vergnügen, bizarr und pervers. Ich habe mal gesagt: Prostitution ist eine Fantasie. Daraufhin hat man mir vorgeworfen, ich würde allen Frauen Prostitutionsfantasien unterstellen. Was ich aber sagen wollte war, Prostitution ist Teil unserer Vorstellungskraft, unserer imaginären Welt. Wir alle haben Gewaltfantasien. Ich zum Beispiel habe mir vorgestellt, meine Eltern zu töten. Deshalb bin ich noch lange kein Mörder. In der Fantasie aber ist alles möglich und wir brauchen diese Gedankenfreiheit! Das Kino kann einen Teil dazu beitragen, einen Gegenpol bilden zur Kontrolle durch die Puritaner.“
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Raphaël ist nicht nur ein ganz famoser Gesprächspartner, sondern auch ein brillanter, loyaler Ami. Wenn ich ein besonders brisantes deutsch-französisches Thema anpacken möchte, melde ich mich bei Raphaël. Er ist immer zugewandt und allen Themen aufgeschlossen. Furchtlos ist er ohnehin. Eine Eigenschaft, die man ja auch mir nachsagt …
Paris, Boulevard du Montparnasse. Der Himmel über der Stadt straft seinem Ruf Lügen: L’éternelle grisaille, die ewige Eintönigkeit, weicht einem strahlenden Blau und einer Horde fröhlich dahingaloppierender weißer Wolken. Raphaël Enthoven, Philosoph, Schriftsteller, Provokateur, schwärmt von diesem Himmel. Auf der Dachterrasse der Éditions de l’Observatoire, seines Verlags, zündet er sich eine Zigarette an und trinkt eine Tasse Kaffee. Enthoven ist verliebt in dieses Land, jedoch ganz ohne rosarote Brille. Das republikanische Ideal stellt für ihn eine konkrete Utopie dar – trotz aller Unzulänglichkeiten. Ein Gespräch über den Menschen in der Revolte, ein Plädoyer für das Maß und die leidenschaftliche Vernunft.
Ute Cohen: Frankreich wirkt in vielen Filmen immer noch märchenhaft klischiert. Warum gibt es weiterhin diese Sehnsucht nach „la vie en rose“?
Raphaël Enthoven: Für einen Franzosen ist es schwer vorstellbar, dass dieses Land im Ausland so günstig dargestellt wird. Vielleicht liegt es daran, dass Frankreich auf dem Papier eine Art perfektes Land darstellt: nicht zu groß, nicht zu klein, es bietet verschiedene Klimazonen, dazu Berge, Seen, köstliches Essen – und der Gedanke, dass wir zudem die beste Literatur haben, gefällt mir natürlich auch. (lacht) In Wirklichkeit aber ist dieses Land das Gegenteil eines El Dorados. (überlegt) Ich kenne aber auch eine Menge Filme, in denen Frankreich so dargestellt wird, wie es ist: manchmal wunderbar, oft eben auch trostlos. Das Kino beschönigt Frankreich nicht. Vielleicht ist das im Ausland so, hierzulande jedenfalls nicht. Vielleicht ist es wiederum Teil der Tragödie Frankreichs, dass es auf seinen zarten Schultern Werte trägt, die dieses Land bei Weitem überragen. Frankreich verkörpert universelle Werte – und stellt doch nur einen Bruchteil dieser Welt dar.
Ute Cohen: In Ihren Texten über die französische Gesellschaft verwenden Sie Begriffe wie „radikal maßvoll“ und „leidenschaftlich vernünftig“. Weshalb haben Sie diese Neigung zum Oxymoron?
Raphaël Enthoven: Ein Oxymoron ist keine Synthese, sondern eine Kreolisierung. Gute Bilder für eine Synthese sind lauwarmes Wasser oder heiße Schokolade. Eine Synthese verschmilzt die Qualitäten zweier Elemente in einer Melange ohne jegliche Rauheit. Kreolisierung dagegen ist – um im kulinarischen Bereich zu bleiben – heiße Schokolade mit einer Kugel Vanilleeis. Hier geht es nicht um Zugeständnisse, es geht nicht darum, einen Mittelweg zu finden. Nein, Maß zu halten ist nach Albert Camus die größte ethische Herausforderung. Er spricht von der anstrengenden Unnachgiebigkeit, in „Der Mensch in der Revolte“ erklärt er, dass das Maß Halten die Revolte vor den drohenden Gefahren des Konservatismus als auch der Revolution zu schützen vermag. Der Mensch in der Revolte ist also ein maßvoller Mensch, weil er nicht die einzig wahre Lösung für sich beansprucht, und weil er seinem Verlangen Konturen aufzwingt, ihm eine Form gibt. Das rechte Maß ist also nicht gleichbedeutend mit Kompromiss. Es zu finden, erfordert Anstrengung. Der radikale Diskurs dagegen ist abhängig vom Kompromiss.
Ute Cohen: Warum?
Raphaël Enthoven: Weil er dem Sprecher erlaubt, im wirklichen Leben überhaupt nichts zu unternehmen. „Lasst uns die Welt ändern!“ – dieser appellhafte Diskurs findet sich recht bequem damit ab, dass die Welt eben doch so bleibt, wie sie ist. Denn solange kein kompletter Umsturz stattgefunden hat, wird diesem Diskurs nichts behagen. Also wird er auch keine Veränderungen anstoßen. Der Diskurs der Revolte und des Maßes dagegen besagt: Die Hälfte von etwas ist besser als das Ganze von nichts. Letztlich handelt es sich also gar nicht um ein Oxymoron, sondern um die präzise Position des Menschen in der Revolte. Man kann radikal maßvoll sein und leidenschaftlich vernünftig. Man kann sogar exzessiv vernünftig und exzessiv maßvoll sein.
Ute Cohen: Sie pflegen eine ausgeprägte Liebe zur literarischen, ausgefeilten Sprache. Gegenwärtig propagiert man jedoch vor allem einfache Sprache im Sinne einer zunehmenden Demokratisierung. Was halten Sie von diesem Ansatz?
Raphaël Enthoven: Mich stört die Vereinfachung der Sprache. Einfachheit ist der Gral. Vereinfachung ist eine Verfälschung. Die Wirklichkeit ist komplex. Einfachheit ermöglicht es, komplexe Dinge darzulegen. Ein besonderes Faible besitze ich für eine Sprache der schwierigen Einfachheit, und für diese Idee bedarf es eines Oxymorons. Die Vereinfachung der Sprache hingegen trägt im Keim Gewalt in sich. Die französische Sprache ist Attacken ausgesetzt. Das ist vergleichbar mit Orwells „Newspeak“ in seinem Roman „1984“: Je weniger Sprache man zur Verfügung hat, desto weniger schlechte Gedanken lassen sich formulieren. Man denkt, wie man spricht.“
(…)
Ute Cohen: Seit Ihrer Kindheit sind Sie mit Literatur und Journalismus vertraut, von Intellektuellen der Bourgoisie umgeben. In Ihrem Roman „Le Temps gagné“ beschreiben Sie die Heuchelei dieser Menschen. Ihr Stiefvater, ein Kinderpsychiater, schlug Sie. Ihr Vater, ein Verleger, hat ein Faible für Luxus. Ist die Hypokrisie das Übel unserer Zeit?
Raphaël Enthoven: Heuchelei ist das Übel aller Epochen. Das Besondere an diesem Stiefvater, den ich beschreibe, ist, dass er sein Fachwissen für seine Gewalt nutzt. Wenn er eine Ohrfeige gibt, dann bereitet ihm das Spaß. Wobei er diese hässliche Geste als Konsequenz einer Handlung des Kindes ausgibt – und das, obwohl sie Selbstzweck ist. Das ist also mehr als Hypokrisie: Der Stiefvater stellt sich als Garant der Wahrheit dar, als Friedensrichter, und benutzt Sprache für seine Zwecke. Der Vater dagegen – er ist ein bisschen verrückt – versucht, die Wirklichkeit sprachlich nach seinen Wünschen zu gestalten. Das ist ein literarisches Ansinnen. Heuchelei findet man wohl eher bei der Kinderfrau, die ihr wahres Gesicht vor den Arbeitgebern verbirgt und das Kind im Geheimen quält. Auch die Stiefmutter mit ihrem Engelsgesicht handelt nicht im Sinne des Kindes. Worauf Ihre Frage zielt: Ist das eine Frage des Milieus? Ich glaube nicht. Es ist eher typisch für alle Familien. Alle Familien gründen in einem Schweigegebot. Wir heiligen die Familie, weil es viel Liebe in ihr gibt. Es gibt in ihr aber auch viel Hass. Die Genealogie der Idee der Familie wäre interessant. Die Familie ist vergleichbar mit einer Frucht, die sich schützend um einen Kern legt. Die Familie ist die Gesamtheit der falschen Beziehungen, die sich um etwas herum bildet, um diese Falschheit zu verschweigen. Heuchlerisch ist die Idee einer Familie, die angeblich von Liebe diktiert – die in Wirklichkeit jedoch von der Sorge getrieben wird, etwas verschweigen zu müssen.
Ute Cohen: Eines der bekanntesten Bücher über die Scheinheiligkeit der Bourgeoisie es den Journalismus ist „Bel Ami“ von Guy de Maupassant. Es handelt vom Aufstieg eines skrupellosen Mannes, Georges Duroy. Ist dieser Typus repräsentativ für diesen Beruf?
Raphaël Enthoven: Pardon? Ich finde Sie ungerecht gegenüber Georges Duroy! Man sagt, dass er skrupellos ist, weil er seinen Aufstieg sexuellen Beziehungen mit bürgerlichen Frauen zu verdanken hat. Er verteidigt aber doch seine Ehre im Duell! Und er ist erstaunt ob all der Verdorbenheit in seinem Umfeld. Er ist nicht nur ehrgeizig, sondern durchaus fähig zur Empfindsamkeit. Und wenn er sich wirklich mies verhält, wird er dafür bestraft. Er ist als Figur auf jeden Fall eher interessant als unmoralisch. Was den Journalismus betrifft: Duroy war die Karikatur eines Journalisten zu einer Zeit, als der Journalismus noch ein echter Beruf war. Heute reicht‘s ja schon, wenn man ein iPhone dabeihat und ein paar Schlägereien filmt. Man braucht nicht mehr mit der Tochter des Chefs zu schlafen, um sich Journalist nennen zu können. Duroy ist also eine überholte Figur. Er entstammt einer Zeit, als die Presse ein Filter war zwischen den Menschen, die zu wissen glaubten, und denjenigen, die tatsächlich wussten.
Ute Cohen: Die Figur des Georges Duroy benutzt Frauen für Karrierezwecke. Was halten Sie von diesem Männertypus?
Raphaël Enthoven: Nichts Besonderes. Man tut, was man kann im Leben. Was zählt, ist, dass er niemanden zwingt. Er zwingt die Frauen nicht, mit ihm zu schlafen. Es handelt sich um ein Abkommen. Abgesehen davon: Warum Menschen miteinander schlafen, interessiert mich nicht. Es geht mich auch nichts an.
Ute Cohen: Was bedeutet diese Form des „Mentoring“ durch eine Frau für die Emanzipation?
Raphaël Enthoven: Das emanzipatorische Modell funktioniert in beiden Richtungen. Es handelt sich in diesem Roman bei der Beziehung zwischen Georges und Madeleine aber nicht wirklich um Mentoring. Sie liebt das Bling-Bling, bringt ihm Snobismus und das Schreiben bei. Sie ist ein Pygmalion und hat eine sokratische, pädagogische Position inne.
Ute Cohen: Sie sind bekannt für Ihre antifeministischen Auslassungen.
Raphaël Enthoven: Ah, wirklich? Ich habe in meinem Leben noch nie etwas Antifeministisches gesagt.
Ute Cohen: Einige interpretieren Ihre Aussagen aber so …
Raphaël Enthoven: Ja, ja, natürlich … Ich vertrete eine Position, die den Feminismus nicht auf dem Altar des Antirassismus opfert. Voilà! Nicht sehr kompliziert. Intersektionalität ist ein Begriff, den man heute verwendet, um Feminismus dem Antirassismus unterzuordnen. Historisch gesehen besaß Intersektionalität ihren Sinn für schwarze Frauen, die an doppelter Front gegen Rassismus und Sexismus, übrigens auch gegen ein schwarzes Patriarchat, kämpfen mussten. Heute geschieht eine Abwertung des Feminismus zugunsten eines verrückt gewordenen Antirassismus. Das geht dann in Extremfällen so weit, dass man Vergewaltigungen nicht anzeigt, wenn es sich um einen nicht-weißen Täter handelt. Der Feminismus, den ich verteidige, ist ein universeller und egalitärer Feminismus. Er hat so lange seine Berechtigung, wie Frausein bedeutet, entweder benachteiligt oder bevorzugt zu werden. Die Quote kann dabei als Übergangsregelung dienen. Die Quote als Mittel, nicht als Zweck!“

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Erst kürzlich war ich wieder im 13. Arrondissement in Paris und musste natürlich sofort an Jacques Audiard und seinen Film „Wo in Paris die Sonne aufgeht“ (Les Olympiades) denken. Mit Audiard habe ich über die Krise des Kinos, die Krise der Männlichkeit und natürlich Erotik im cinéma gesprochen.Ach ja, falls ihr ein paar nette Adressen in Paris braucht, schreibt mir einfach. Ich habe ja lange dort gelebt und bin oft in meiner Lieblingsstadt …
Ute Cohen: Ihr Blick auf Männer und Frauen ist sehr körperlich. Ihre Figuren wirken wie von ihren Trieben gelenkt. Triumphiert der Instinkt über den Verstand?
Jacques Audiard: Ja, meine Protagonisten haben eine spezielle Energie, die man als sexuell verstehen könnte. Ich würde sie aber eher erotisch nennen. Das Kino soll ja auch erotisieren. Wenn ich ein Casting mache, dann suche ich nach einer Person mit einer erotischen Verführungskraft, selbst wenn es sich um die Rolle einer Geschäftsfrau handelt. Wenn es diese erotische Dimension nicht gibt, dann ist der Charakter unglaubwürdig. Selbst in einem ganz banalen Gespräch bedarf es einer erotischen Aufladung!
Ute Cohen: Der Alltag ist Quelle der Verführung in Ihrem Film. Émilie verwandelt selbst ihren Callcenter-Speech in Liebesgesäusel. Viele aber sehen die Verführung in Gefahr. Sie nicht?
Jacques Audiard: Nein, was meine Hauptfiguren ausmacht, ist, dass sie sich ständig verführen, und zwar im Gespräch. Ihr Leben dreht sich ums Vögeln, wie man so schön sagt. Ich glaube fest an die erotische Kraft der Sprache wie auch Éric Rohmer. Ich bin ein unverbesserlicher Romantiker. Wir leben aber in einer Gesellschaft, in der man am ersten Abend miteinander ins Bett geht. Wann werden wir wohl wieder zu einem erotischen Dialog finden? Ich glaube jedenfalls daran, dass das passieren wird!
Ute Cohen: Sie finden sogar – und das ist selten! – eine überzeugende Bildsprache für die Sexualität einer missbrauchten Frau. Nora experimentiert mit ihrem Verlangen, versucht Autorität über ihren Körper zu gewinnen. Wie haben Sie sich dem Thema genähert?
Jacques Audiard: Der Missbrauch hat dazu geführt, dass sie blind geworden ist gegenüber ihrer eigenen Sexualität. Das ist fürchterlich! Zugleich wollte ich nicht diesen „Oh je, wie schlimm!“- Effekt erzeugen, sondern auch eine weniger ernsthafte, leichtere Note einbringen. Es ist gar nicht so leicht, sexuelles Verlangen in seiner vielfältigen, auch komischen Seite abzubilden.“

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„Erster Stock links“, ertönt es aus der Gegensprechanlage. Macha Méril empfängt in ihrem Pariser Appartement, nur ein paar Schritte von der Métro Saint-Paul entfernt. Sie trägt rot. Signalwirkung hat dieses Jackett von Courrèges, dessen futuristische Ensembles in den 60er-Jahren Furore machten. Den Aufbruch in eine neue Zeit bedeuteten sie, den Bruch mit einem bourgeoisen Frankreich, das die Frau auf ihre Rolle als Hüterin des katholischen Heims beschränkte. Méril war Feuer und Flamme für die neue Zeit: Als Kommunistin, Schauspielerin, Libertine drehte sie mit Godard, Buñuel, Varda, Lelouch, Fassbinder. Polanski sei zu bemitleiden, sagt sie, Godard wäre besser tot. Reiche Menschen bedauert sie – aber an eine bevorstehende Revolution glaubt sie nicht.
Macha hat eine unfassbare Strahlkraft und besticht mit einer wohltuenden Geradlinigkeit. Sie hat keine Angst davor, von ihren Zeitgenossen geschmäht zu werden. Klar und deutlich ist sie ihm Gespräch, charmant sls Gastgeberin ohnehin. Einen Einblick in ihren Kleiderschrank (Oh, die Courrèges-Stücke!) hat sie mir auch gewährt …
Macha Méril: Ich habe keine Kinder bekommen, da ich unfruchtbar wurde nach einer Abtreibung. Die Konsequenzen muss man tragen, wenn man sich selbst nicht limitiert. Ich war eben keine Bourgeoise, sondern sah mich als Tochter armer Emigranten. Das hat mich beflügelt, mir eine unheimliche Freiheit gegeben.
Ute Cohen: Die Tochter eines fürstlichen Emigranten.
Macha Méril: Ja, vielleicht hat mir diese Herkunft doch eine natürliche Stärke verliehen. Andererseits waren wir wirklich arm in unserem Vorstadthäuschen. Dieser Mangel ist aber eher von Vorteil für die Kreativität. Man muss sich bewegen.
Ute Cohen: Glück und sexuelle Erfüllung, sagen Sie, markieren das Leben einer Frau. Das klingt nach purem Hedonismus.
Macha Méril: Nächstes Jahr werde ich achtzig und erst jetzt beginne ich zu begreifen, warum ich gehandelt habe, wie ich gehandelt habe: Ich hoffte auf die Liebe, musste aber warten und zugleich leben, handeln, leiden. Liebe habe ich erst vor sieben Jahren kennengelernt mit Michel Legrand. (Méril war mit dem Filmkomponisten verheiratet, Anm. d. Red.) Mein Prisma hat sich gewandelt, wir hatten eine gemeinsame Vision der Welt und der Liebe. Liebe, das versteht nicht jeder, Liebe ist total.
Ute Cohen: Und was den Hedonismus betrifft?
Macha Méril: Damals sprach man nicht von weiblicher Lust. Heute ist der Orgasmus in aller Munde. Damals aber galt der Kampf in erster Linie der Aneignung des Körpers. Heute habe ich einen anderen Blick auf die Dinge. Sex ist trist ohne Liebe. Dennoch war dieser Weg für mich notwendig, damit sich dieses Wunder der Liebe mit Michel erfüllt. Vielleicht bin ich da ein wenig mystisch, aber ich glaube, dass es nur eine einzige Liebe im Leben gibt. Ich war fasziniert von Männern – auch Politikern, Regisseuren –, mit denen ich amouröse Freundschaften hatte. Das ist eine komplizierte Angelegenheit, weswegen ich auch nicht viel zu #MeToo gesagt habe. Schauen Sie, wenn ein Regisseur und eine Schauspielerin intensiv zusammenarbeiten, kann das doch nur im Sex enden! Sex ist das Maximum, was man mit einem anderen Menschen machen kann. Ich finde es normal, dass bestimmte Phasen der Kreation sexuell werden. Das schockiert mich nicht weiter.“
(…)
Ute Cohen: Derzeit kritisieren viele ihrer jüngeren Kolleginnen die patriarchalen Strukturen der Filmindustrie. Wie ist Ihre Position?
Macha Méril: Ohne Zweifel sind die Strukturen patriarchal. Wir sind aber gerade dabei, das auszugleichen, und zwar – hier spricht die Marxistin! – durch die Arbeit. Wenn Frauen arbeiten und finanziell unabhängig sind, verändert das auch die Männer. Das heißt aber nicht, dass man Yin und Yang zerstören, männlich und weiblich auflösen soll. Das es aktuell Spannungen gibt, ist normal, das ist immer so am Ende eines Krieges: Verlierer schlagen um sich. Mich erstaunt es nicht, dass es noch Mistkerle gibt, die Frauen vergewaltigen. Wenn es aber darum geht, dass einem einer die Hand aufs Knie legt, dann schiebt man sie einfach weg.
Ute Cohen: Unterscheiden Sie da zwischen erwachsenen Frauen und Jugendlichen?
Macha Méril: Wenn ich beispielsweise an Polanski denke: Diese achtzehn-, neunzehnjährigen Mädchen, Mannequins, sind in seine Chalets gegangen. Sie wussten, wer er ist und was da läuft. Bei dem 13-jährigen Mädchen war das eine andere Sache.
Ute Cohen: Er hat doch eine loyale, gut aussehende Frau.
Macha Méril: Das tut nichts zur Sache. Polanskis Filme laufen gut; auch „J’accuse“, obwohl bei der Aufführung in Paris Feministinnen demonstrierten. Polanski ist ein großer Regisseur, aber wenn er glaubt, sich reinwaschen zu können mit diesem Film: Nein! Ich kannte ihn schon in Italien, als er „Was?“ drehte, dort habe ich ihm eine Villa für den Dreh beschafft. Gut, um die rechtliche Seite bei Polanski kümmern sich unsere Gerichte. Wenn man aber versucht, ihn am Filmemachen zu hindern, dann ist das totalitär und lächerlich.
(…)

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New York calling!
Sie war Mieze in Fassbinders „Berlin Alexanderplatz“, Gudrun Ensslin in „Die bleierne Zeit“, die Revolutionärin in „Rosa Luxemburg“, die Philosophin in „Hannah Arendt“. Der deutsche Film der vergangenen vier Jahrzehnte wäre undenkbar ohne Barbara Sukowa. Seit ihrer Heirat mit dem Multimediakünstler Robert Longo lebt sie in New York und verfolgt auch eine englischsprachige Karriere. Fies und unvergesslich ihr Auftriit in Jonathan Peele‘s Hunters. Ein Gespräch über Erotik im Alter und den Stress des Lügens.
Ute Cohen: In „Wir beide“ träumen Nina und Madeleine von einem neuen Leben. Michael Haneke dagegen hat in seinem Film „Liebe“ ein altes Ehepaar gezeigt, das selbstbestimmt das Ende des Lebens gestalten will. Was entspricht Ihrer Haltung: Sterben lernen oder der ewige Traum vom Neubeginn?
Barbara Sukowa: Beides. Auch Sterben lernen ist ja ein Neubeginn, wenn man vorher immer leben wollte. Solange ich dazu in der Lage wäre, würde ich mir einen Neubeginn auch physisch vorstellen. Auch wenn es ein innerer Neubeginn ist, kann er das Sterbenlernen beinhalten. Das muss aber nicht sein. Ich kann mich auch woanders hinfantasieren. Wie genau, kann ich aber nicht sagen, weil ich an diesem Punkt nicht bin.
Ute Cohen: Madeleine erleidet im Film einen Schlaganfall, der alle Aufbruchspläne zunichtemacht. Achten Sie sehr auf Ihre Gesundheit?
Barbara Sukowa: Ich finde es so faszinierend, dass es so viele Publikationen über Lebensverlängerung gibt. Was machen die Leute dann mit diesem Leben? Wir können immer älter werden, und dann sitzen wir da und spielen Videospiele? Es ist fruchtbarer zu überlegen, was man mit seinem Leben anfängt, als was man mit seiner Gesundheit macht.
(…)
Ute Cohen: Madeleines Leben ist vom Verzicht auf das Ausleben ihrer lesbischen Liebe gekennzeichnet. Sie bleibt bei Mann und Kindern und liebt die Freundin heimlich. Ist dieser Kompromiss spießbürgerlich oder moralisch richtig?
Sukowa: Es kann doch beides sein. Vielleicht wollte sie aber alles haben? Vielleicht sagt sie sich: Ich habe die Familie, die Kinder, Harmonie auf der einen Seite, eine erotische Situation mit der Freundin auf der anderen Seite. Vielleicht ist dieses heimliche Leben, das sie sich da aufgebaut hat, auch ein gewisses Aphrodisiakum. Wenn die beiden von Anfang an zusammengelebt hätten, wären sie jetzt vielleicht ein langweiliges Paar geworden oder hätten sich wieder getrennt. Vielleicht hat Madeleine geglaubt, dass beides möglich ist. Menschen denken oft, sie treffen Entscheidungen. Doch das Leben ist eine Verflechtung von Dingen.
Ute Cohen: Der italienische Schnulzensong „Chariot“ ist das Liebeslied der beiden Hauptfiguren. Ist heute, wer Kitsch liebt, der wahre Rebell?
Barbara Sukowa: Wenn man sich der Tatsache bewusst ist, dass etwas Kitsch ist, ist man schon jemand, der Kunst kennt. Kitsch wird immer noch im Gegensatz zu wirklicher Kunst gesehen, trotz Künstlern wie Jeff Koons, die mit Kitsch spielen in ihrer Arbeit. Für Menschen, die Kitsch wirklich lieben, ist es natürlich keine Rebellion; sie lieben ihn einfach. Für die anderen ist es ein Joke.“
(…)
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Zu Trauma und Resilienz gibt es eine umfangreiche Fachliteratur. Der Neuropsychiater Boris Cyrulnik weiß, wovon er spricht. Er ist das beste Beispiel dafür, dass man trotz furchtbarer Erlebnisse wieder auf die Beine kommen kann. Ihr werdet sehen: Den Aufstehern gehört mein besonderes Interesse (auch Marianne Faithfull gehört dazu)…
Ute Cohen: Können Spiritualität und Religion zur Resilienz beitragen?
Boris Cyrulnik: Eindeutig ja. Ich habe ein Buch geschrieben mit dem etwas provokativen Titel »Psychothérapie de Dieu«; das hat mir aber seltsamerweise kein Mensch zum Vorwurf gemacht. (lacht) Im Judentum benennen wir Gott zwar nicht, aber wir sprechen zu ihm. Wir können beim Rabbi nachfragen: Sag mal, ich habe das nicht so recht verstanden, was du meintest, und er gibt uns eine Antwort. Das gilt auch für andere Religionen. Gläubig sein modifiziert unsere neuronalen Netze. Mit einer verbalen Repräsentation, mit einem Wort, wirke ich auf den Körper ein. Die verbale Repräsentation Gottes wirkt sich also auf mich aus. Wenn man, wie man zu meiner Zeit noch sagte, in die »Schul«, also in die Synagoge, geht, erschafft man sich durch gemeinsames Beten und mittels Riten eine Repräsentation von Hoffnung, Heilung und Transzendenz. Gläubige widerstehen Krankheiten besser und können besser mit Ängsten umgehen.“
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Seit Jahren beabsichtigten wir uns zu treffen. Zufällig sind wir uns dann in einer Kunstsammlung über den Weg gelaufen, haben angeregt geplaudert und kurzerhand beschlossen, unsere Unterhaltung am kommenden Wochenende fortzusetzen. Gesagt, getan! Eine Frau, ein Wort!
Es war ein gutes Gespräch zum Tag der Deutschen Einheit, neugierig beäugt von Bonnie Propeller.
Ute Cohen: Viele erliegen derzeit der Versuchung, Herkunft überzubetonen und Identitäten zu vergötzen. Was bedeutet das für die menschliche Gestaltungskraft?
Monika Maron: Ich halte das für ein Geschäftsmodell. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das ein Bewusstseinszustand sein könnte. Wie will man denn in so einer Reduktion existieren? Wenn Menschen so viel Energie auf ihr Transsein oder ihr PoC-Sein verwenden zum Beispiel, dann kommen sie doch gar nicht mehr zu etwas anderem. Es wäre ja ein höchst unproduktiver Zustand, das zu benutzen, was der Status hergibt, um zu verlangen und zu fordern. Das führt zu einer Art Kastensystem und es ist rassistisch, wogegen es sich ja angeblich richtet. Wenn Weiße etwas anderes sind als ein dunkelhäutiger Mensch – was ich so nicht sehe! Entweder ist jemand ein freundlicher, vielleicht sogar interessanter Mensch oder nicht – was kann daran rassistisch sein. Das Kastensystem, das etabliert wird, in der Kombination von Opferrollen wie Trans, behindert, schwarz, ist ein zivilisatorischer Rückfall und das Ende individueller Freiheit.
(…)
Ute Cohen: Tugenden wie Selbstreflexion und Unbestechlichkeit sind im Verschwinden begriffen. Weshalb ist die virtus (lat. Tugend), auch als Lebenskraft verstanden, so in Verruf geraten?
Monika Maron: Begründet wird das immer mit der deutschen Vergangenheit: Wir dürfen nicht wehrhaft und keine Helden sein. Ich halte das für Trägheit und verantwortungslos. Dass ein zivilisiertes Volk in einen solchen moralischen Abgrund stürzen konnte, darf man nie vergessen. Aber warum das ein Grund sein soll, eine menschliche Tugend wie Mut, auch Heldenmut, zu verteufeln, erschließt sich mir nicht. Wahrscheinlich liegt es daran, dass wir diese Tugenden ewig nicht gebraucht haben, jedenfalls der Westen nicht. Die Vorstellung, dass man sein Leben, sein Land, seinen Wohlstand verteidigen muss, war ja seit Jahrzehnten keine Frage. Jetzt wird es langsam eine. Aber ein Muskel, den man nicht benutzt, schrumpft.

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Falls Ihr Lust habt auf ein wenig Amusement, empfehle ich euch mein jüngstes Interview mit Lisa Eckhart.
Ärgert ihr euch auch manchmal, wenn ihr als Leser unterschätzt werdet und an eurem Interesse, eurer Bildungsfähigkeit gezweifelt wird? Jenau! Deshalb haben wir über die „plastische Chirurgie“ des Inneren und intellektuelle Trägheit geplaudert. Und natürlich auch über Kommunismus und Oswald Spengler. In angemessener Reihenfolge natürlich …
Frau Eckhart, Größenwahn scheint Sie zu reizen, um nicht zu sagen, zu befallen. Sie nannten ihren Sohn nach einer Vorstellung „le dauphin“ und tragen ein Halstuch mit der Aufschrift „Napoleon“. Woher rührt dieser Hang zu Herrschaft und Monarchie?
Ach, ich muss sagen, bei Napoleon ist es ja eine ganz spezielle Verwandtschaft. Bei Napoleon war es ja so: Er ist nach Deutschland geritten und die größten Denker Deutschlands haben sich ihm vor die Füße geworfen und als er dann wieder weg war, haben sie sich alle an den Kopf gefasst und gefragt „Was hat uns da nur befallen?“ und allen war es schrecklich peinlich. So sehe ich dann auch viele Denker sich an den Kopf greifen, wenn ich einmal nicht mehr da bin, hoffentlich auf eine ebenso pittoreske Insel verbannt wie Napoleon. Da finde ich auch das Ende sehr berückend. Was die Monarchie betrifft, ist es einfach meine politische Einstellung auch. Ich habe immer gesagt, ich bin k.u.k., also kaiserlich und kommunistisch, weil ich auch gedenke, das wieder aufleben zu lassen. Es ist ja gerade sehr im Trend. Von mir war es zuerst Koketterie, aber diese Verbindung aus Kommunismus und Kaiserreich – wir sehen es in Russland, wir sehen es in China – scheint gut zu funktionieren.
Das halten Sie für erstrebenswert?
In dem Sinne, wie ich es durchsetzen würde. Einen vernünftigen, nicht ins Mörderische ausartenden Sozialismus mit einer ganz klar aus dem Volk herausragenden Herrscherfigur als Idol. Man darf die Menschen nicht für dumm verkaufen. Ich muss ihnen von Beginn an sagen, dass ich sie als Kaiserin ausbeute und mich an ihnen bereichere, aber man muss ihnen jemanden geben, zu denen sie hochschauen können. Ich glaube, wir leiden sehr unter einem Idolmangel. Dass jeder sein eigener kleiner Hausgott ist, hat den Menschen nicht gutgetan. Es würde ihnen helfen, wenn sie mal wieder nach oben schauen könnten zu jemandem und wenn sie nicht dauernd Introspektion und Bauchnabelschau betreiben würden.
Schlägt das Imperium auch zurück?
Gewiss. (lacht) ich nicht persönlich, weil ich ein sehr friedfertiger Mensch bin, aber vermutlich werde auch ich meine Abteilung haben, die sich die Hände schmutzig macht. Das wird sich nicht vermeiden lassen, aber wir werden versuchen, auch das möglichst human zu gestalten und jeweils mit Verbannung an möglichst pittoreske Orte. Es wird kein tödliches Regime sein. So viel kann ich versprechen.
Ute Cohen: „Die Gestalten der Ober- und der Unterwelt in BOUM sind entstellt oder formlose Menschenmasse. Wie gestalt- und formbar ist der Mensch?
Lisa Eckhart: Ich glaube doch sehr, leider beschränkt man sich oft auf das Äußere. Dass man, was das Innere betrifft auch plastische Chirurgie betreiben könnte in Form von Bildung, gilt manchen als verpönte Idee. Das wird gerne verkauft als Chancenungerechtigkeit, weil nicht jeder den gleichen Bildungszugang hat, dient aber vielen gut betuchten Menschen als Ausrede, jeglicher Allgemeinbildung abzusagen. Den ungebildeten reichen Gören, denen würde ich gern sagen: “Lies gefälligst den Kant zu Ende! Die Kinder in Afrika haben gar nichts zu lesen!” Das Wissen ersetzen viele durch ihr Gefühl. Aber Wissen bleibt Macht, auch wenn eine spezielle Klientel behaupten würde: „Gefühl ist alles“. Nein! Gefühl ist Ohnmacht, deshalb suhlen sie sich auch so gerne darin. Weil jede Macht etwas schmutziges sei. Der Mensch ist wunderbar formbar, deshalb gerade finde ich es so schade, wenn man darauf verzichtet, zu streben, zu wandeln und sich stattdessen ausruht auf seinem Geschlecht oder seiner Herkunft und sich darin gefangen fühlt. Die Biologie erlegt einem Hürden auf, aber die lassen sich überwinden.“
(…)
Wie lassen sich die Trans-Debatte und die Irrelevanz der Biologie darin einordnen?
Ja, da würde man wieder weggehen vom Tierischen. In der Trans-Debatte wird das kulturell weiterentwickelt, aber auch zum Endpunkt hin, weil es ja auch ein Endpunkt der Sexualität ist. Es wird nicht mehr darüber gesprochen, wer mit wem Sex hat, sondern nur mehr solipsistisch „Wer bin ich? Was für ein Geschlecht?“. Und wenn sich jemand für das andere Geschlecht interessiert, bedeutet das nicht mehr, dass er jemanden erotisch findet, sondern dass er eigentlich sein eigenes Geschlecht wechseln möchte und alles abgedeckt hat, ohne einen Partner zu brauchen. Das ist ja eine egomane Debatte letztendlich.
Auf der einen Seite haben wir eine Hinwendung zum Animalischen, auf der anderen Seite das Ätherische, die Auflösung der Körperlichkeit. Das sind ja zwei gegenläufige Bewegungen. Welche trumpft?
Ich glaube, dass sich das dialektisch gut verträgt. Dieses Transfluide wäre ja schön, aber letztlich sind ja diese Menschen nicht so spielerisch, wie man es sich erhoffen würde. Es muss alles ganz klar konnotiert sein und e darf kein falsches Pronomen verwendet werden. Das widerspricht glaub‘ ich dem Spiel und der Maskerade, was ja auch von Judith Butler angedacht war, dass das subversiv wäre.
Es ist ein letztes Aufbäumen der Geschlechter. Es geht hin ins Körperlose, Digitale, was ich nicht befürworte, aber der geschlechtslose Konsument ist die Figur der Zukunft. Für die großen Firmen ist es leicht, sich regenbogenfreudig bunt zu geben, denn für sie zählt die Kaufkraft. Denen ist die Hautfarbe und das Geschlecht derartig egal. Das ist kein Statement, sondern eine Strategie.
In „Boum“ wird der Mensch zum ungezieferigen „Gemensch“. Was passiert mit dem Menschen? Gehen wir alle unserer Individualität verlustig und im Kollektiv auf?
Es scheint so. Es scheint auch das Bedürfnis zu bestehen, im Kollektiv aufzugehen, auch wenn das ein bisschen einen faschistischen Ruch hat, selbst für die, die darin aufgehen möchten, weil die Individualität doch sehr anstrengend geworden ist. Freiheit ist anstrengend. Machistischen Männern sagt man nach, sobald sie eine Frau haben, dann wollen sie sie nicht mehr. Mir scheint, wir halten es so mit der Freiheit. Sobald sie da ist, wird sie mühsam wie nach einer langen Beziehung. Man würde sich wieder gern in diverse Fesseln legen oder überhaupt ozeanisch auflösen in der Masse. Jetzt werden unverdächtige Massen gesucht, denn die Masse eskaliert gern. Deshalb sucht man sich eher Stämme. Man spricht ja auch von Tribalismus. Diese Stämme dürfen aber eine bestimmte Größe nicht überschreiten, denn dann wird’s wieder verdächtig. Sie müssen in der Minderheit bleiben, denn da verortet man ja die Tugend. Sobald es in die Mehrheit schwappt, ist es automatisch gewalttätig in den Augen mancher.“

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Klasse? Klassenkampf? Kollektive? Kunst und Literatur in Deutschland haben die drei Ks zum Geschäftsmodell erkoren und schlittern damit an jeder Lebenswirklichkeit vorbei.
Was in Deutschland der dernier cri ist, wird in Frankreich allerdings längst in die Mottenkiste gesteckt. Mit dem Demokratieforscher Pierre Rosanvallon habe ich für WELT über überholte Begriffe, Revolten und die Prüfungen des Lebens gesprochen.
Vive la France!
Ute Cohen: Warum erlebt das Thema „Klasse“ in der Literatur in Frankreich und in Deutschland trotz der offensichtlichen Unzulänglichkeit eine Renaissance?
Pierre Rosanvallon: Bei Autoren wie Didier Eribon, Annie Ernaux und Édouard Louis geht es vor allem um das Thema „Klassenüberläufer“, um Bildungsaufsteiger. Édouard Louis und Annie Ernaux lösten sich los von ihrem Herkunftsmilieu und weisen einen beispielhaften Bildungsaufstieg auf. Édouard Louis ist ein echter Bildungsaufsteiger, da er eine wahrhaft proletarische Herkunft hat. Es gibt aber auch Autoren, die mit dem Thema Klasse hausieren gehen. Da wird dann ein Großvater, der Arbeiter war, ins Spiel gebracht und jede kleinste soziale Gelegenheit als Klassenproblem deklariert. Klasse ist zu einer Art Orden für Aktivisten geworden. Ähnlich verhält es sich mit Migration. Das zeugt von einer gewissen Schwierigkeit, die Gesellschaft zu verstehen. Diese Literatur ist vor allem eine Nabelschau, keine Analyse der Gesellschaft. Houellebecq oder auch Nicolas Mathieu interessieren sich dagegen auch für andere Schichten und haben eine dynamische Vorstellung von Gesellschaft.

Delphine ist eine sehr charmante, liebenswürdige Autorin. In Ihrer Wohnung in Paris haben wir über Momfluencer geplaudert und in diversen Instagram Accounts gestöbert. In Berlin habe ich im Literaturhaus anschließend ihr Buch „Die Kinder sind Könige“ vorgestellt.
Politischer Aktivismus ist ihr suspekt, der Kampf für eine bessere Welt aber fremd. Die französische Schriftstellerin fühlt sich wohl in diesem Spannungsfeld. Es reizt sie, der Gesellschaft einen Spiegel vorzuhalten, ohne die Rolle der Scharfrichterin zu spielen. Indem sie in die Haut Ihrer Figuren schlüpft, entwickelt sie ein Gespür für schleichende Gewalt und Verstrickungen. Auch in ihrem neuen Roman „Die Kinder sind Könige“ lässt sie zwei gegensätzliche Figuren aufeinandertreffen: Mélanie, eine Momfluencerin, die ihre Kinder zum Geschäftsmodell macht, und Clara, eine Polizistin, die einen Entführungsfall zu lösen hat. Delphine de Vigan infiltriert in diesem Buch die Welt der Family Influencer, eine Welt, in der sich Abgründe auftun, sobald man hinter die Instagram-Fassade blickt.
Ute Cohen: Der Titel Ihres neuen Romans erinnert an die Kinderpsychiaterin Françoise Dolto, die sich für die Anerkennung des Kindes als Subjekt engagierte. Das Phänomen tyrannischer Kinder wird oft auf diese 70er-Jahre-Psychologie zurückgeführt. In ihrem Buch ist es vielmehr die Mutter, die sich tyrannisch und infantil gebärdet. Ist das eine neue Entwicklung? Eine Umkehrung der Rollen?
Delphine de Vigan: Der Titel ist ja eine Antiphrasis, eine Art Ironie. Mélanie, eine meiner Hauptfiguren, äußert diesen Satz: „Wissen Sie, bei uns sind die Kinder Könige.“ Das stimmt natürlich nicht. Mélanie lenkt dieses ganze System und bestimmt über ihre Kinder.
Die Idee zu dem Buch kam mir, als ich einen Artikel über Influencer-Kinder las. Oftmals verstecken sich diese Eltern hinter der Idee, die Kinder wollten das doch. Als ob man mit zwei Jahren Influencer sein möchte! Es stimmt schon: Die Kindererziehung hat sich verändert, aber es gibt auch eine Regression bei Erwachsenen, vor allem in den Sozialen Medien. Da verkleiden sich Mütter schon mal als Schneekönigin oder tragen bonbonrosa Kleider … Man fragt sich dann: Wer ist da eigentlich das Kind? (lacht)
(…)
Ute Cohen: Würden Sie von Kindesmisshandlung sprechen hinsichtlich der Instrumentalisierung von Kindern durch Momfluencer?
Delphine de Vigan: Um Misshandlung und Machtmissbrauch handelt es sich In einigen Fällen bestimmt. Nicht aus Absicht, aber aus einer Realitätsverweigerung heraus.
Ute Cohen: Man könnte also von schleichender Gewalt sprechen?
Delphine de Vigan: Ja, genau. Um diesen Machtmissbrauch geht es immer wieder in meinen Büchern. Diese Kinder werden ja in das System hineingeboren, sie werden konditioniert. Jede Minute wird von den Eltern dokumentiert und auf Instagram gestellt.

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