„This whole world is wild at heart and weird on top“ 

In keinem Film wird wohl so viel geraucht wie in David Lynchs „Wild a heart“. Immer wenn eine Zigarette aufglimmt, öffnet sich das Tor zur kruden Wirklichkeit. Das Höllenfeuer der Vergangenheit lodert auf und zieht Sailor (Nicolas Cage) und Lula (Laura Dern) hinein in ein von diabolischen Kräften regiertes Universum. Sailor und Lula finden Schutz nur in ihrer Liebe. Soll die Welt in Flammen aufgehen, immer wird es diese Gegenwelt geben, die mehr vermag als jeder Schutzraum aus Stahl und Beton. Von „Safe spaces“ war 1990 noch nicht die Rede, auch lag #metoo noch in weiter Ferne. Gewalt war Teil einer aus den Fugen geratenen Welt, märchenhaft der Gedanke, sie auszumerzen. Auch ich hatte mich zu dieser Zeit begnügt mit der Unausweichlichkeit des Bösen und den Schmerz über meinen Kampfgeist obsiegen lassen – bis zu dem Tag, an dem ich „Wild at heart“ in einem Kino in Erlangen sah.

Lulas Flashbacks in eine von Vergewaltigung geprägte Kindheit erinnerten mich mit grausamer Wucht an die Zeit, in der ich selbst einem Mann ausgeliefert war. Onkel Pooch heißt Lulas Täter, ich habe ihn in meinem Roman „Satans Spielfeld“ Bauleitner getauft. Die „Böse Hexe des Ostens“, eine Anspielung an den „Zauberer von Oz“ reitet auf ihrem Besenstiel durch den Nachthimmel und wird so zum Symbol für drohendes Unheil und die Schatten der Vergangenheit. Lynchs Film ist ein Schauermärchen über Missbrauch und die Kraft der Liebe. Vielleicht mögen weniger versehrte Wesen beschämt sein über das kindliche Pathos, die Splattermovie-Elemente und die grotesken Eskapaden. Mich aber hat der Film überwältigt mit seiner kathartischen Kraft. Die Tränen in die Augen trieb mir die Szene, in der Lynch das Gesicht der 13-jährigen Lula im Vergrößerungsglas zeigt. Die Arme im Hintergrund schrumpfen auf embryonale Größe zusammen und der rote Faden, der sich als Radiokabel noch ein paar Szenen zuvor um Sailors Beine wand, verwandelt sich in einen Schlauch, in dem das Blut nach der Abtreibung fließt. Rot – Will man den Film mit einer Farbe bezeichnen, dann ist dies zweifelsohne Blutrot. Aus Schädeln fließt es, aus abgerissenen Gliedmaßen spritzt es und Lulas Mutter, die dämonische Hexe, verreibt sich grellroten Lippenstift im Gesicht. Lynch ist der Meister der versteckten Symbole. Lulas rote Schuhe erinnern an Dorothys Pumps aus dem „Zauberer von Oz“. Der engelsgleichen und doch seltsam magisch wirkenden Lula stellt Lynch die böse Mutter gegenüber, deren Schuhe schwarz sind und so krumm wie die Nase des Teufels. Mit Kontrasten und Schwarzweißzeichnung gibt sich Lynch aber nicht zufrieden. Verstörend ist an „Wild at Heart“, dass er die destruktiven Nachwirkungen sexueller Gewalt und das Irrationale der Sexualität in all ihren Zwischentönen erfasst. Bobby Peru, brillant dargestellt von Willem Dafoe, fungiert dabei als schwarzer Engel, der nicht nur den Tod verheißt, sondern auch die fatale Attraktion durch das Böse, die aus Angst und Schrecken geborene Erregung. Lynch erklärt nicht, sondern lässt den Körper, oftmals auch Körperteile seiner Protagonisten für sich sprechen. Lulas Hand nach dem Sex mit Sailor verkrampft sich zunächst und erschlafft danach auf dem Bett. Diese körperliche Reaktion zeigt sie nach dem Orgasmus und auch – und darin zeigt sich die unvergleichliche Raffinesse David Lynchs! – in dem Moment, in dem Bobby Perou sie erniedrigt und zu misshandeln droht. Die Kamera richtet sich auf die Hand und dann wieder auf die beschämte, von der eigenen unwillkürlichen körperlichen Äußerung verblüffte Lula. Ähnliche Szenen der Erregung wider Willen finden sich in Marquis de Sades „Justine“. Ob diese Zwiespältigkeit heute noch auf einer Leinwand gezeigt werden würde, bezweifle ich. In Lynchs Kosmos offenbart sich das Gute und Böse in der Liebe, nicht in der Sexualität. Sailor ist dieser Liebende, der einem männlichen Beschützerinstinkt gehorchend Lula nicht nur vor dem Bösen schützt, sondern auch vor sich selbst. Jenny Holzer tauchte ihre Botschaft „Protect me from what I want“ in bengalisches Blau, Lynch lässt den Hilferuf flimmern und irisieren. Sailor ist auch der Retter, der die Thrash-Metal-Band Powermad in schmalzige Backgroundsänger mutieren lässt und Elvis‘ „Treat me like a fool, mean and cruel but love me“ ins Mikrofon haucht. Der Mann kann das, der Mann darf das, schließlich trägt er seine Schlangenleder-Jacke, die für ihn „symbol of my individuality, and my belief in personal freedom“ ist. Antiquiert, patriarchalisch, neoliberal? 

Das ist keine Liebe auf Augenhöhe, die uns Lynch in „Wild at heart“ erzählt, sondern ein Märchen, in der Männlichkeit und Weiblichkeit, Täter und Opfer keine Begrifflichkeiten brauchen, sondern sich zeigen und auflösen in der Tat.

Und brauchen wir nicht gerade das in einer Welt, die wie Santos im „Killing Mood“ ist, in der ein Jingle Dell sich von schwarzbehandschuhten Aliens verfolgt fühlt und Kakerlaken in den Hintern schiebt, einer Welt, die vor Verrätern strotzt? Die Bilder dieses Films verfolgen uns in die eigene Wirklichkeit und versöhnen uns mit all ihrer Zerrissenheit und Grausamkeit, denn Lynchs Kunststück besteht darin, dass er uns an ein Happy End trotz aller Widrigkeiten glauben lässt. 

Ganz oben am Himmel schwebt gewiss eines Tages eine gute Hexe vorbei, die Sailor, mag er auch einmal zögern, die Wahrheit zuflüstert: „If you are truly wild at heart you fight for your dreams“.

                                                                       Ute Cohen/David Lynch/Wild at Heart 1990

4 Antworten zu “„This whole world is wild at heart and weird on top“ ”

  1. Ausgezeichnet! Hier kommt wieder eines Deiner Talente zum Vorschein . Mit Deiner feinen Beobachtungsgabe und dem Mut , die menschlichen Abgründe in dieser vermeintlich „ heilen Welt“ aufzuzeigen. Wärst Du meiner Ansicht nach auch eine sehr gute Filmkritikerin!
    Bravo👏🌟

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  2. Ein hervorragende Ausarbeitung der Assoziationspsychologie. Lynch ist ein Meister des Framings, und du hast das durchschaut. Kleine Beispiele wie das Blut im Schlauch, oder die Doppeldeutigkeit der sich schmerz-lustvoll schließenden und sich öffnenden Hand.
    „Wild at Heart“ ist voller kleine Haken, die der Film wie mit einer Harpune ins Hirn des Betrachters schießt, um ihn dann, wenn er, wie der gewaltige Marlin in Hemingways altem Mann auf dem Meer, genug (mit sich) gekämpft und schließlich verloren hat, mit der Leine einzuholen und festzumachen. Lynch ist aber nicht nur der Fischer, er ist auch der Hai, der den Betrachter seiner Filme skelettiert und restlos zurücklässt.
    Chapeau Ute Cohen. Du hast den Meister entlarvt.

    Gefällt 1 Person

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